Sira Teil 4: Die Berufung zum Propheten


Muhammad begann in den letzten drei Jahren vor seiner Berufung sich regelmäßig zurückzuziehen. Er suchte die Einsamkeit in einer Höhle namens Hira auf einem Berg nahe der Stadt, um dort zu meditieren, zu beten und nachzudenken. Als er vierzig Jahre alt war, im Ramdan des Jahres 13 v.H. (August 610 n.Chr.) hatte er dort seine erste Begegnung mit dem Engel Gabriel, der ihm von nun an die Offenbarung überbringen sollte.
Der Engel erschien ihm in Gestalt eines Menschen, ergriff ihn, drückte ihn fest an sich und ließ ihn erst wieder los, als er völlig erschöpft war. Dann herrschte er ihn an: „Lies!“ Muhammad antwortete „Ich kann nicht lesen.“ Der Engel ergriff ihn erneut und drückte ihn so heftig wie beim ersten Mal. Danach wiederholte er seinen Befehl: „Lies!“ Beim dritten Mal fuhr er dann fort:
Lies im Namen deines Herren, der erschuf. Erschuf den Menschen aus einem haftenden Tropfen. Lies, und dein Herr ist der Großzügigste, der lehrte mit dem Schreibrohr, lehrte den Menschen, was er nicht wusste.“(al-Alaq; 96; 1-5)
Dies waren die ersten fünf offenbarten Verse des Koran. Durch diese Begegnung war Muhammad zum Propheten geworden.

Nach der Begegnung in der Höhle

Nach der gewaltigen Begegnung mit dem Engel Gabriel ging Muhammad hinaus aus der Höhle und hörte dieselbe furchteinflößende Stimme rufen: „Muhammad! Du bist Allahs Gesandter und ich bin Gabriel!“ Er erhob seine Augen und sah den Engel wieder in der überdimensionalen Gestalt eines Mannes. Er stand am Himmel über dem Horizont. Dann rief die Stimme erneut: „Muhammad! Du bist Allahs Gesandter und ich bin Gabriel!“ Muhammad, Allahs Segen und Frieden über ihn, versuchte, der Vision zu entkommen und drehte sich weg. Doch egal, wo er sich hinwendete, der Engel stand dort und schaute zu ihm.
Nach einiger Zeit verschwand der Engel und hinterließ einen vom Schock benommenen und eingeschüchterten Muhammad, der nach Hause zu seiner Frau Khadija eilte, um bei ihr Wärme und Trost zu finden. Er erzählte ihr von seinem Erlebnis. Sie versuchte ihr Bestes, um ihn zu beruhigen und ihm Mut zu machen. Er sei doch stets rechtschaffen, großzügig und hilfsbereit gewesen, sagte sie, da werde Gott ihm kein Unheil beschieden haben. Sie nahm ihn zu ihrem Onkel Waraqa, der die Schriften der Christen kannte. Als Waraqa sich den Bericht Muhammads angehört hatte, erklärte er ihm, dass dies wohl der Engel wäre, der auch zu Moses gekommen war. Der alte Mann war sich sicher, dass Muhammad zum Propheten auserwählt worden war.

Die Umstellung auf das Leben als Prophet

Die erste Zeit der Offenbarung war für Muhammad sehr anstrengend. In den Tagen, vielleicht Wochen und Monaten nach der einschüchternden und furchterregenden Begegnung von Hira plagten ihn erdrückende Sorgen und Ungewissheit. Die Berichte gehen bis hin zu seinen Gedanken, sich von einem hohen Felsen herabzustürzen.
Über Muhammad war diese Neuausrichtung seines Lebens völlig überraschend hereingebrochen. Zwar hatte es in den vergangenen Monaten schon Anzeichen für die Berufung gegeben: „wahre Traumgesichte, die kamen wie die Morgendämmerung“, wie er sie später beschreiben sollte, oder der Friedensgruß, den er manchmal ganz deutlich vernommen hatte, ohne dass jemand zugegen gewesen wäre. Doch konnte er diese Zeichen erst im Nachhinein als solche deuten.
Nun war ein fremdes Wesen zu ihm gekommen, ein Wesen aus der verborgenen Welt. Die Hunafa’ hatten eine tiefe Skepsis gegenüber der Zauberei, Wahrsagerei und allen Formen der abergläubischen Interaktion ihrer Zeitgenossen mit der verborgenen Welt. Auch Muhammad wird dieses Misstrauen geteilt haben. Nun war er selbst in Kontakt getreten mit einem Wesen aus eben jener Welt.

Muhammad war zudem ein ruhiger Mann, der sich vom alltäglichen Treiben der Menschen, ihren Festen und Spielen weitgehend ferngehalten hatte. Er war bescheiden und intelligent und fiel außer durch seine Ehrbarkeit und Ruhe nicht auf. Nun sollte er aus der Mitte der Menschheit auserwählt worden sein, um der Menschheit gegenüberzutreten. Dieser Gedanke verschreckte ihn und machte ihm sicherlich Angst.
Es dauerte einige Zeit, bis er sich vergewissert hatte, dass der Ruf ein göttlicher war, dass er eben nicht krank oder besessen war. Dieser Ruf bedeutete für ihn die völlige Umstellung seines Lebens und die Aufgabe seiner bisherigen Ruhe und gesellschaftlichen Stellung. Erst nach und nach, als sich die Offenbarung und die Begegnungen mit dem Engel fortsetzten, akzeptierte er sein Schicksal und fügte sich in diese neue Rolle.
Wahrscheinlich war es auch in dieser Zeit, dass die Offenbarung einmal für längere Zeit unterbrochen wurde. Der Engel hatte ihn so lange nicht besucht, dass er sich verlassen fühlte und die Zweifel ihn erneut existenziell plagten. Die Unterbrechung dauerte entsetzlich lange Monate, manche Berichte sprechen sogar von drei Jahren, bis die Sure ad-Duha (der Morgen, Sure Nr. 93):

Bei dem Morgen! Und bei der Nacht, wenn sie still ist! Dein Herr hat Sich nicht von dir verabschiedet und Er hasst dich nicht. Und das Jenseits ist wahrlich besser für dich als das Diesseits. Und dein Herr wird dir gewiss geben, und du wirst zufrieden sein. Hat Er dich nicht als Waise gefunden und dich untergebracht, dich irrend gefunden und rechtgeleitet, und bedürftig gefunden und dich reich gemacht? So unterdrücke die Waise nicht, und fahre den Bettler nicht an! Und erzähle von der Gnade deines Herrn!