Sira Teil 25: Muhammad, Gottes Diener und Gesandter

 

Wer die Geschichte Muhammads liest, gewinnt möglicherweise den Eindruck, dass sein Leben aus einer langen Kette von von Ereignissen im Rahmen der Auseinandersetzung mit denen, die seine Botschaft für sich nicht annehmen und auch für andere nicht zu dulden wollten: Politik, Krieg und Diplomatie. Doch wenn wir den Koran lesen oder in den Sammlungen seiner vielen tausend überlieferten Aussagen und Erlebnisse blättern, ist unser Eindruck ein ganz anderer: Sein Leben war durch und durch von der spirituellen Hingabe an den Einen Herrn, von der Verkündung der Tugend, dem Gebet mit seinen Gefährten in der Moschee und allein in der Nacht geprägt.

Ein Freund mit Humor

Er erzählte seinen Gefährten Geschichten von den früheren Propheten, erklärte ihnen den Koran, redete ihnen ins Gewissen und sprach mit ihnen über ihre alltäglichen Probleme. Er konnte auch vor Zorn erröten und man sah ihm an, wenn ihm etwas missfiel. Er grüßte gerne zuerst, und lächelte und scherzte gerne mit seinen Gefährten. Er hatte einen Sinn für Humor aber er lachte eher selten und zurückhaltend. Wenn man dabei sogar seine Eckzähne sehen konnte, dann war es immer etwas so Besonderes, dass die Überlieferer es ausdrücklich erwähnten. Er war vor allem geliebt und seine Gesellschaft war die schönste Gesellschaft, in der man seine Zeit zubringen konnte.

Wie alle Ehemänner dieser Welt hatte auch Muhammad mal Streit mit seinen Frauen, einmal hielt er sich sogar einen Monat lang von ihnen fern. Auch wenn er sich in private Familienangelegenheiten nur in Ausnahmefällen direkt einbrachte, so lebte er doch ein „schönes Zusammensein“ mit seinen Frauen vor. Seine Kleider flickte er gerne selbst und wenn er zuhause war „war er im Dienst seiner Familie“, machte also bei der Erledigung des Haushalts mit, eben „bis die Zeit des Gebets kam, dann begab er sich in die Moschee.“ Mit seiner geliebten Frau Aischa lief er einmal in der Moschee ein Wettrennen, und sie, flink und viel jünger als er, besiegte ihn sogar. Und als einige Heuchler einmal Aischa verleumdeten, wusste auch er nicht recht, was er von der Sache halten sollte. Eine düstere Stimmung, ein erdrückendes Unbehagen legte sich einen Monat lang über die gesamte Stadt, bis die Offenbarung selbst Aischa freisprach. Aischa nahm ihm dies natürlich übel. Für sie war es keine Entschuldigung, dass ihr Ehemann das Verborgene ja auch nicht kannte. Aber einem Menschen vergibt man auch, und welchem Menschen sollte sie vergeben, wenn nicht Muhammad?

Ein liebvoller Vater und Großvater

Er weinte still, als sein kleiner Sohn Ibrahim bald nach seiner Geburt schon starb. Und sein Herz erfüllte sich vorübergehend mit Hass, als er sah, dass die Feinde die Leichen seiner Gefährten geschändet und die Leber seines geliebten Onkels Hamza herausgerissen hatten. Seine Liebe zu seiner verstorbenen Frau Khadija konnte er zeitlebens nicht vergessen. Seine Enkelkinder stiegen ihm gerne auf den Rücken, während er im Gebet seine Stirn auf den Bode legte – auch in der Moschee. Er besuchte gerne seine Base Umm Hani, um seinen Kopf zum Mittagschlaf in ihren Schoß zu legen und sich dabei lausen zu lassen. Und vielleicht war seine größte Niederlage jene, dass sein geliebter Onkel, der ihn als Waise geliebt und umsorgt und als Gesandten vor den Mächtigen der Koraisch in Schutz genommen hatte, in seinen Händen verstarb ohne das Bekenntnis zu dem Einen Gott auszusprechen.

Ein bemerkenswerter geistiger Wandel

Die Gemeinschaft, die er „erzog“, war in jeder Hinsicht beeindruckend und bemerkenswert. Sie beteten viel und waren dennoch bodenständig und ganz von dieser Welt. Sie machten jeder für sich einen Wandel durch, wie ihn die wenigsten Menschen in ihrem Leben überhaupt durchmachen. Männer, die zuvor ihre Töchter bei lebendigem Leibe begruben, wurden sanft und gottesfürchtig und weinten viel. Sie waren nachdenklich und besorgt um ihr Schicksal im Jenseits. Vielleicht war nie zuvor oder danach eine ganze Gemeinschaft so intensiv mit dem Leben nach dem Tod beschäftigt.
In den dreiundzwanzig Jahren seines Wirkens als Gesandter verkündete er den Koran und machte damit ein ganzes Volk, das des Lesens und Schreibens nicht kundig war, zu einer Gesellschaft, deren Alphabetisierungsrate sich wahrscheinlich gut und gerne mit der moderner Gesellschaften vergleichen lassen könnte. Ein Volk, das geprägt war von Stammesfehden und heißblütiger Torheit wurde von heute auf morgen zu einer zivilisierten Gesellschaft. Was der Prophet damals in der Zeit der Verfolgung in Mekka dem Khabbab in Aussicht stellte und sich wie ein Hirngespinst anhörte, trat tatsächlich ein: „Allah wird diese Sache zu Ende führen, bis der Reiter von Sana’a bis Hadramaut wird reisen können, ohne sich vor etwas zu fürchten, außer vor Allah und dem Wolf um seine Schafe.“ Sana’a und Hadramaut befinden sich beide im weit entfernten Jemen und entzogen sich damals der Erfahrungswelt der meisten Mekkaner.
Eine Gesellschaft, die, wie die meisten anderen Gesellschaften der Welt, dem Alkohol durchaus erlegen war, wurde in dieser Zeit weitgehend nüchtern – das hat es in der Menschheitsgeschichte nie wieder gegeben. Ehebruch und Unzucht verschwanden fast vollständig aus dem Alltag, aber Sexualität und Liebe zwischen Männern und Frauen blieben für beide Geschlechter eine selbstverständliche Sache, die man gerne genoss. Die wichtigsten Aspekte der Scheidung wurden geregelt ebenso wie das Erbrecht und das Vergeltungsrecht, und zwar in einer Art und Weise, die mit dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen damals in völligem Einklang war.

Werte, für die er stand

Sklaven wurden zu Menschen erklärt, die gut zu behandeln waren, deren Freilassung und Freikauf eine fromme Tat waren – in den folgenden Jahrhunderten verschwand so die Sklaverei weitgehend aus der muslimischen Gesellschaft, ohne das es dafür blutiger Aufstände und ihrer noch blutigeren Niederschlagung bedurfte. Tiere waren nicht mehr der Willkür des Menschen ausgeliefert, sondern durften nur sinnvoll und auf möglichst schmerzlose Weise getötet werden. Auch Lasttiere hatten einen Anspruch auf angemessene Behandlung und Barmherzigkeit: „Seid barmherzig zu denen auf der Erde, so erbarmt sich der im Himmel eurer.“ Als er eine aufgebrachte Vogelmutter sah, mit der sich seine Gefährten einen Spaß erlaubt hatten, indem sie ihr ihre Küken weggenommen hatten, ging ihm dies unter die Haut und er fragte sie zornig: „Wer hat ihr mit ihren Kindern diesen Schrecken eingejagt? Gebt ihr ihre Kinder zurück!“
Doch die Regeln spielten allem Anschein nach nur eine nebensächliche Rolle. Sie waren von Gott und wurden von den Herzen verinnerlicht. Zwar standen harte Strafen auf Vergehen gegen einige Gebote, aber es kam fast nie zum Ausspruch dieser Strafen, weil das Gewissen die wichtigste und stärkste „Regierung“ dieser Gemeinschaft war. Und nicht die Gebote und Verbote, sondern die Tugenden waren ihre wichtigsten Regeln: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Redlichkeit, Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Respekt – und Ergebenheit zu dem Einen Souverän, dem Erschaffer des Universums.
Andacht und Demut und tiefe Gläubigkeit waren es, die das Bild der medinensischen Gemeinschaft bestimmten: Ging man in der Nacht durch die Gassen der Stadt, vernahm man ein Summen wie in der Nähe von Bienenstöcken: Männer und Frauen wachten da in der Moschee und zuhause und rezitierten den Koran im Gebet oder flehten zu Gott, manche vernehmbar, manche still für sich. Und immer wieder das ergriffene Schluchzen vor Gott, dem Erhabenen und Gnädigen. Und tagsüber ertönte in regelmäßigen Abständen der Ruf des Muezzin und in den folgenden Minuten schwollen die Straßen und Gassen wie Bäche an, die in der Moschee zusammenflossen.

Macht und Bescheidenheit

Er war mächtiger als je ein Herrscher vor oder nach ihm – denn die Menschen gehorchten ihm aus Liebe – doch blieb er immer ein einfacher, umgänglicher Zeitgenosse. Ein kleines Mädchen konnte kommen und ihn aus seiner aktuellen Gesellschaft herausreißen, weil sie gerade etwas in ihren Augen sehr wichtiges auf dem Herzen hatte. Und wenn es darum ging, Essen vorzubereiten, übernahm er gerne seinen Teil und ging zum Beispiel Brennholz sammeln. Und auch der Koran behandelte ihn mitunter als fehlbaren Menschen und tadelte ihn, wenn er Fehler beging. So zum Beispiel als er sich einmal in der Hoffnung, die Herzen einflussreicher Männer für den Glauben zu gewinnen, von einem blinden Glaubensbruder abwendete.

Muhammad war und blieb zeitlebens ganz und gar Mensch: „Verherrlicht mich nicht wie die Christen den Messias, den Sohn der Maria, verherrlichten, sondern sagt Diener Gottes und Sein Gesandter.“ Er war nichts lieber und keine Bezeichnung war ihm gefälliger als „Diener Gottes“. Keine Tätigkeit liebte er mehr als das Gebet, keine Gesellschaft war ihm lieber als die Gottes, und in ihr verbrachte er nach seiner Berufung wohl den größten Teil seines Lebens. Vor allem betete er nachts sehr lang. Einmal sah Aischa, dass seine Füße vom vielen langen Stehen im Gebet Risse in der Haut bekommen hatten, und fragte ihn, warum er sich das antue: „Hat Gott dir denn nicht deine vergangenen und künftigen Fehler vergeben?“ Er antwortete, vielleicht mit einem glücklichen Lächeln: „Soll ich denn kein dankbarer Diener sein?“
Dies entspricht eher dem Gesamtbild, das man von Muhammad gewinnt, wenn man den Koran und die vielen Überlieferungen über ihn liest.

Kein romantischer Pazifist

Natürlich hat Muhammad auch politisch und militärisch eine großartige Leistung vollbracht, aber wenn man den göttlichen, wundersamen Anteil hiervon abzieht, wird er durchaus vergleichbar mit anderen historischen Leistungen dieser Art – oder doch nicht ganz? Muhammad baute unter Umständen ein Reich auf, das nach allen soziologischen und geopolitischen Erkenntnissen der modernen Nachwelt nie hätte entstehen können.
Und es war ein Reich, das, mit Ausnahme vielleicht der genannten jüdischen Stämme, keine Unterworfenen und Unterwerfer kannte. Muhammad war kein romantischer Pazifist, was damals sicher weltentrückt gewesen wäre, und predigte auch keinen Pazifismus. Stattdessen lebte er vor, wie ein notwendiger Waffengang zivilisiert und nach den Regeln der Verhältnismäßigkeit zu führen war, er mahnte zu Rücksicht gegenüber Unbeteiligten und zu Menschlichkeit gegenüber Gefangenen. Und wenn Versöhnung und Vergebung möglich waren, war dies immer die beste und nachhaltigste Lösung von Feindseligkeiten. Er war aber auch ein strategischer Visionär. Es ging ja um nichts Geringeres als um den Islam, Gottes letzte Botschaft an die Menschheit. Sie ist zwar zuvorderst eine Botschaft der Spiritualität, Tugend und Moral. Sie aber den wechselnden Interessen von Kapital, Aristokratie und Tyrannei preiszugeben ist weder ethisch geboten, noch für ihren geistig-spirituellen Fortbestand notwendig. Es hätte vielmehr ihren sehr frühen Untergang bedeutet und wäre wohl nichts weiter als einfältige Frömmlichkeit gewesen.

Ethik und Menschenwürde

Es galt der Menschheit zu zeigen, dass Ethik nicht nur ein schöngeistiges Postulat sein muss, wegen dessen Beachtung die so genannten Gutmenschen dieser Welt mal respektiert, mal belächelt werden. Auch kein ideologischer –ismus und keine revolutionäre Idee, die in größenwahnsinnigen Tragödien münden und den Menschen mehr Unheil und Entfremdung von sich selbst bringen als Ethik und Gerechtigkeit. Es war zu zeigen, dass Ethik, Tugend und Geistigkeit durchaus mit dieser Welt vereinbar sind und damit der Mensch für sie durchaus verantwortlich ist.
Der Prophet Muhammad predigte Menschenwürde nicht nur, sondern sie war für ihn ein heiliges, d.h. unantastbares Gut auch im wirklichen Leben. Menschenrechte, Minderheitenrechte und Rechtsstaatlichkeit waren, ohne in komplizierten, nur für Juristen durchschaubaren Gesetzeswerken, ausformuliert zu sein, selbstverständlich und auch gegen die höchsten geistigen und politischen Repräsentanten einklagbar – eben auch für Juden und Christen und auch gegen ihn selbst.

Ein Prophet auf dem Zenith der Macht

Sein persönliches Verhältnis zur Macht unterscheidet den Propheten, Gottes Segen und Frieden über ihn, schließlich auch von den allermeisten Figuren der Weltgeschichte, die zu großer Macht aufstiegen: Ihn korrumpierte die Macht nicht. Weder vor noch nach seiner Berufung war sie ihm ein persönliches Anliegen. Und als dann nach der Eroberung Mekkas die arabischen Stämme aus allen Gebieten der Halbinsel ihre Delegationen nach Medina schickten, um die Annahme des Islam zu erklären, fasste die Sure 110 seinen persönlichen Anteil an diesem Triumph am besten zusammen:

Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg, und du die Menschen in Scharen in die Religion Allahs eintreten siehst, dann lobpreise deinen Herrn und bitte Ihn um Vergebung! Er ist gewiss der, der die Reue gnädig annimmt. (an-nasr; 110; 1-3)

Langsam kündigte sich nun das Ende dieser Episode der Menschheitsgeschichte an, der Episode der letzten Botschaft des Himmels zu den Bewohnern der Erde, des letzten und edelsten der Gesandten Gottes, das Ende der wunderbaren Prophetentradition von Adam über Noah, Abraham, Jakob, Josef, Hud, Salih, Moses, Jesus und Muhammad. Als der Prophet seinen Gefährten Muad bin Jabal in den Jemen schickte, um ihn dort zu vertreten, sagte er ihm beim Abschied, dass er ihn vielleicht nicht mehr treffen würde. Auch andere Bemerkungen von ihm sollten die Menschen um ihn herum immer mehr auf den letzten Abschied vorbereiten.