Sira Teil 11: Nachtreise und Himmelfahrt

 

In den zwei Jahren nach dem Tode Khadijas und Abu Talibs fand das bemerkenswerte Ereignis statt, das in späteren Jahrhunderten bei den Muslimen wie kein anderes die Erzählphantasie und Malerei inspirieren würde: Die wundersame Reise des Propheten, Gottes Segen und Frieden über ihn, nach al-Quds (Jerusalem) und seine Auffahrt in den Himmel. Es ist viel diskutiert worden, welcher Art diese Reise gewesen sein soll, ob sie körperlicher oder rein geistiger Art war, also lediglich eine Vision, ein „realer Traum“. Fest steht, dass der Prophet von ihr berichtete wie von einer realen Reise, die sich aber in einer Nacht und zum Teil in einer verborgenen Welt, d.h. auf für den menschlichen Geist unvorstellbare Weise vollzogen hat. Die gestellte Frage ist eher von nachrangiger Bedeutung.

Du hast die Fitra gewählt

Jedenfalls ist der Engel Gabriel zum Propheten gekommen, als er bei der Ka’ba betete. Er nahm ihn auf einem pferdähnlichen Flugtier, dem Buraq, auf die Reise nach al-Quds. Dort traf er am Tempel auf eine große Gemeinschaft von Propheten, mit denen er gemeinsam und als ihr Imam das Gebet verrichtete. Es war eine schöne Begegnung, vielleicht auch ein Trost in der schmerzvollen Zeit nach dem Verlust von Khadija und Abu Talib und nach der traurigen Episode von Taif. Die Propheten waren versammelt an einem Heiligen Ort in jenem Land, in dem so viele von ihnen zuvor schon ihre Spuren hinterlassen hatten, und Muhammad war ihr Imam im Gebet zum Erhabenen, ihrem und der Welten Einen Herrn.
Vor dem Gebet waren ihm Wein und Milch zum Trinken angeboten worden. Als er die Milch wählte, sagte ihm der Engel: „Du hast die reine Natürlichkeit (Fitra) gewählt. Hättest du den Wein genommen, wäre dies eine Versuchung für deine Umma geblieben.“ Die siebzehnte Sure des Koran, al-Isra’, ist nach der Nachtreise benannt und widmet ihr den ersten Vers:
Gepriesen sei Der, Der bei Nacht Seinen Diener von der heiligen Moschee zu der fernen Moschee, deren Umgebung Wir gesegnet haben, hinführte, auf dass Wir ihm einige Unserer Zeichen zeigten. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allsehende. (al-isra’; 17; 1)

Nach dem Besuch im Tempel fuhr Muhammad zusammen mit Gabriel hinauf in die verschiedenen Sphären des Himmels und begegnete auf jeder Ebene einem der großen Propheten, mit denen er im Tempel gebetet hatte, darunter Adam, dem Vater der Menschheit, Johannes, dem Täufer, Jesus, Josef, Aaron und Moses. Sie alle grüßten ihn und hießen ihn willkommen. Im siebten Himmel dann trafen sie auf Abraham, der sich ebenfalls über den Besuch Muhammads freute und ihn willkommen hieß. Sie alle erschienen ihm in wundervoller Schönheit und himmlischer Verklärung.

Am Ende des Weges

Anschließend fuhr er weiter in die Höhe, bis er an den „Lotusbaum des äußersten Endes“ kam. An diesem äußersten Punkt, am „Ende des Weges“, dem Gipfel des Universums, zeigte sich ihm Gabriel noch einmal in seiner vollen Pracht. Die Berichte beschreiben das, was sich dort ereignete, in Bildern, die angelehnt sind an unsere irdische Erfahrungswelt. In Wirklichkeit sind es jedoch Andeutungen himmlischer Erscheinungen. Entsprechend ist auch die Sprache der Koranverse, die von dieser Erfahrung sprechen:
Gelehrt hat ihn einer, der über starke Kräfte hat, der Macht besitzt; darum stand er aufrecht da, als er am obersten Horizont war. Dann näherte er sich; kam dann nach unten, so dass er zwei Bogenlängen entfernt war, oder noch näher. Da offenbarte Er Seinem Diener, was Er offenbarte. Das Herz hat nicht gelogen, was er sah. Wollt ihr da mit ihm über das streiten, was er sieht? Und er sah ihn bei einer anderen Begegnung, beim Lotusbaum am äußersten Ende, an dem der Garten der Heimstätte liegt. Dabei überflutete den Lotusbaum, was (ihn) überflutete. Da wankte der Blick nicht, noch überschritt er das Maß. Wahrlich, er hat von den größten Zeichen seines Herrn gesehen. (an-najm; 53; 4-18)

Was der Prophet dort wahrnahm ist von himmlischer Natur. Er sah von dem Lichte des göttlichen Angesichts und empfing dort von seinem Herrn unmittelbar die Offenbarung zur Pflicht des täglichen fünfmaligen Gebets.

Viele Spötter und ein Siddiq

Als er am nächsten Morgen wieder bei seiner Familie in Mekka war, erzählte er ihnen von seiner Reise nach al-Quds, nicht aber von der Himmelfahrt. Es dauerte nicht lange, bis die ganze Stadt davon erfahren hatte und die Geschichte zum Anlass für Hohn und Gelächter genommen wurde. Für die Ungläubigen war dies der Beweis, dass Muhammad tatsächlich besessen oder geistig verwirrt war. Es war aus diesem Anlass, dass Abu Bakr den Beinamen Siddiq bekam, was soviel bedeutet wie „der große Bezeuger“. Einige Ungläubige waren zu ihm gekommen und hatten ihm von der ungeheuerlichen Geschichte seines Freundes erzählt. Er erwiderte ihnen gelassen, dass Muhammad ihm doch täglich von der Botschaft berichte, die ihn vom höchsten Himmel erreiche und nicht nur aus al-Quds. Wenn er es gesagt haben sollte, dann habe er die Wahrheit gesagt.
Erst als der Prophet von Karawanen berichtete, die er unterwegs gesehen hatte, erst als er sie genau beschrieb, erst als diese Karawanen zu den Zeiten in Mekka ankamen, die er vorausgesagt hatte und seine Beschreibungen genau auf sie zutrafen, erst dann versiegte der Spott der Koraisch.
Für den Propheten war die Reise eine große Beruhigung und eine heilsame Ehrung, nachdem er so nahe der Verzweiflung gewesen war. Es war die Vereinigung mit den Propheten, es war die Empfängnis der Offenbarung von Gott ohne die Vermittlung des Engels. Es war eine Erhebung, die ihn jenseits der irdischen Endlichkeit die Wirklichkeit der Dinge im großen Dasein erfahren ließ.