Sira Teil 10: Das Jahr der Trauer

 

Die Feindseligkeit der Mekkaner und ihre Hetze gegen den Propheten blieben nach der Aufhebung des der Sippenhaft gegen die Banu Haschim unverändert. Ihre Verleumdungskampagnen gegen ihn führten sie vielleicht noch systematischer und intensiver durch. Jedenfalls schien der Prophet, Allahs Segen und Frieden über ihn, für seine Mission unter den Mekkanern keine offenen Herzen mehr zu finden.
Er wandte sich nun gezielter an die Araber jenseits der Koraisch, die immer wieder nach Mekka kamen, vor allem zur alljährlichen Pilgerfahrt. Er suchte sie einzeln und in Gruppen auf und lud sie zum Islam ein. Aber diese Araber wiesen ihn genauso rüde ab, wie es die meisten Mekkaner taten.
Zu dieser aussichtslosen Lage kamen für den Propheten, Gottes Segen und Frieden über ihn, noch zwei sehr traurige persönliche Ereignisse hinzu, weshalb dieses Jahr auch als „das Jahr der Trauer“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Im siebten Monat (Rajab) des Jahres 10 nach der Berufung (4 v.H.; 619 n.Chr.) verstarb sein inzwischen greiser Onkel Abu Talib und zwei Monate danach, im Ramadan, Khadija.
Vor allem der Tod seines Onkels war untröstlich, denn er blieb bei dem Götzenglauben. Noch in den letzen Minuten bat Muhammad ihn innig, Gott, den Einen, zu bezeugen und sich von den Götzen zu lösen. Aber der ebenfalls anwesende Abu Jahl erinnerte ihn eindringlich an die Treue zum Glauben seiner Väter und Abu Talibs letzte Worte waren: „Im Kult des Abd al-Muttalib.“

Koraisch setzen sich über eigenes Schutzrecht hinweg

Der Verlust seines geliebten Onkels und der Abschied von seiner ebenfalls geliebten Frau in so kurzer Zeit waren für den Propheten eine schwere Last. Hinzu kam, dass die finanzielle und emotionale Unterstützung seiner Frau und der politische Schutz seines Onkels ihn wehrlos machten gegen die inzwischen lebensgefährlichen Anfeindungen der Koraisch. Die Mordpläne gegen ihn wurden immer unverhohlener.
Selbst der bisher geschützt geglaubte Gefährte Abu Bakr war sich seines Lebens nicht mehr sicher und trat die heimliche Flucht nach Abessinien an. Nur im Schutz eines einflussreichen Freundes, den er unterwegs traf, konnte er Mekka wieder betreten. Als er aber eines Tages miterlebte, wie seine schwächeren Gefährten, die keinen Beschützer hatten, brutal verprügelt wurden, befreite er seinen Freund öffentlich von seinem Schutzversprechen. Später wurde auch er von Utba, dem Mann, der den Koraisch nach seinem Gespräch mit Muhammad noch empfohlen hatte, ihn seinen Weg gehen zu lassen, so heftig zusammengetreten, dass seine Familie keinen Zweifel hatte, dass er seinen Verletzungen erliegen würde.

„In wessen Hände gibst Du mich?“

Der Prophet selbst begab sich im zehnten Monat (Schuwal) desselben Jahres (4 v.H.; Juni 619 n.Chr.) ins südlich von Mekka gelegene Taif, sprach dort mit den Oberhäuptern der Stadt und verkündete ihnen seine Botschaft von dem Einen Gott. Aber die Leute von Taif waren noch gröber als die Mekkaner. Sie wiesen ihn nicht nur ab, sondern scheuchten das Gesinde der Stadt zusammen und ließen sie ihn hinaussteinigen.
Die Lage schien aussichtslos: Die Mekkaner bedrohten ihn und seine Gefährten inzwischen existenziell, die arabischen Stämme zeigten auch nur Ablehnung und in Taif hatte man ihn hinausgesteinigt. Er lief mit von den Steinwürfen blutenden Füßen zurück in Richtung Mekka. Unterwegs kam er an einem Palmenhain vorbei, in dem er sich ausruhte. Er wusste keinen Rat mehr und war der Verzweiflung nahe. Gott hatte ihm den Erzengelengel immer nur die Glaubensinhalte selbst überbringen lassen: Die Einheit Gottes, die guten Tugenden, das Gebet, das Gottvertrauen, die wunderbare Schöpfung, die Großartigkeit und die Allmacht Gottes und immer wieder Geschichten von den Propheten und Erinnerungen an das Jenseits. Aber taktische Anweisungen, was er konkret tun sollte, Hinweise, wie er einen Ausweg aus der sich seit Jahren immer weiter zuspitzenden Situation finden sollte, blieben aus. Nur die Anweisung zu verkünden. Er schien auf sich allein gestellt. Im Schatten des Palmenhains sprach er ein Gebet, das diesem Gefühl Ausdruck verlieh:
„O Allah, Dir klage ich meine Schwäche, meine Hilflosigkeit und mein Elend unter den Menschen. Du Barmherzigster aller Barmherzigen, Du bist der Herr und Beschützer der Unterdrückten. Du bist mein Herr. In wessen Hände gibst Du mich? In die Hände eines fernen Fremden, der mich misshandelt? Oder in die eines Feindes, dem Du Macht über mich gibst? Wenn Du gegen mich keinen Zorn hegst, so bekümmere ich mich nicht. Denn Deine Güte ist mir ein breiterer Horizont. Ich nehme Zuflucht zum Lichte Deines Angesichts, das alle Finsternis erstrahlen lässt und in dessen Licht sich die Dinge des Diesseits und Jenseits ordnen, damit Dein Zorn nicht auf mich fällt und Dein Grimm mich nicht trifft. Der Tadel steht Dir zu, bis Du zufrieden bist. Es gibt keine Macht und keine Kraft außer von Dir.“

Schutzlos zurück nach Mekka

Der Prophet wusste, dass er sich nun nicht einfach nach Mekka zurückbegeben konnte. Durch seinen Versuch, außerhalb von Mekka Unterstützung für eine von den Oberhäuptern seines Volkes angefeindete Sache zu finden, hatte er ihnen nun quasi seinerseits die Feindschaft erklärt. Mit dem Schutz seiner Sippe konnte er jetzt auch nicht mehr rechnen, denn Abu Talib war verstorben und an seine Stelle war Abu Lahab getreten, der Muhammad gemeinsam mit seiner giftigen Frau Umm Jamil von Anfang an nur mit Hass und Niedertracht begegnet war. Er musste sich einen anderen Schutzpatron suchen ganz so, als wäre er ein Fremder. Zwei Männer aus angesehenen Stämmen lehnten sein Gesuch ab, bis schließlich Mut’im bin Adiyy sich bereit erklärte. Mut’im giing zusammen mit seinen Söhnen bewaffnet in die Moschee und rief sein Vorhaben aus. Abu Jahl fragte ihn jedoch: „Beschützt du oder folgst du?“ Erst als Mut’im ihm zusicherte, Muhammad in seinem Glauben nicht gefolgt zu sein, akzeptierte nahm erkannte er seine Asylgewährung an.
Die folgenden Jahre waren für den Propheten und die Muslime mit ihm unverändert schwierig und entbehrungsreich. Die Herzen der Mekkaner schienen versiegelt zu sein und ihre Diffamierungskampagnen legten undurchdringliche Schleier zwischen der Botschaft des Himmels und den Menschen, die von außerhalb Mekka besuchten. Aber die Wende sollte sich schon im nächsten Jahr von völlig unerwarteter Seite ankündigen, wenn eine kleine Gruppe von Männern aus Yathrib nach Mekka kommen sollte. Doch zuvor sollte der Prophet noch ein ganz besonderes Erlebnis haben, ein Geschenk von unvorstellbarer Schönheit: al-Isra’ und Mi’raj, die Nachtreise und die Himmelfahrt.