Sira Teil 14: Eine neue Gemeinschaft entsteht

 

In der Stadt Yathrib war die Ankunft des Propheten, Gottes Segen und Frieden über ihn, ein Freudenfest. Niemals hatte es zuvor einen fröhlicheren Tag gegeben, wird der junge Anas bin Malik sich Jahrzehnte später erinnern. Alte und Junge, Frauen und Männer säumten die Straßen. „Der Prophet ist gekommen!“ Dieser Ruf war überall in der Stadt zu hören. Mädchen sangen ein Lied, das bis heute bei den Muslimen rund um den Erdball fast jedes Kind kennt. Es begann ein Wetteifern um die Ehre, den Propheten als Gast zu gewinnen. Einzelne und Vertreter von Sippen luden ihn ein, bei ihnen Quartier zu beziehen. Sie griffen nach den Zügeln seiner Kamelstute Qaswa’, um ihn zu sich zu führen. „Lasst sie, denn sie steht unter dem Befehl Gottes.“, sagte er ihnen jedes Mal nur.

Als diese Aussage langsam zu den Leuten in der Menge durchgedrungen war, konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit auf Qaswa’. Sie machten ihr den Weg frei und verfolgten ihren gemächlichen Schritt, bis sie sich auf einem Platz neben einigen Dattelpalmen und der Ruine eines Hauses niederließ. Dort beschloss der Prophet zu wohnen und die Moschee zu bauen. Das Grundstück gehörte zwei Waisen, die er bat, es ihm zu verkaufen. Sie wiesen ab und wollten es ihm schenken. Doch der Prophet bestand darauf, einen Kaufpreis zu zahlen. Ein Mann namens Abu Ayyub hatte derweil aufmerksam einen Augenblick abgewartet, den Propheten doch noch als Gast zu gewinnen. Er band unbemerkt das Gepäck von der Stute los und es in sein nahe gelegenes Haus gebracht. Als die Leute wieder begannen, um den Propheten zu buhlen, sagte er ihnen lächelnd: „Ein Mann bleibt bei seinem Gepäck.“ Abu Ayyub hatte diesen Wettkampf gewonnen. Seit diesem Tag wurde die Oasenstadt Yathrib auch madinatu n-nabiy, die Stadt des Propheten, genannt. Die Abkürzung Medina ersetzte rasch von selbst den alten Stadtnamen.

Brüder und Schwestern

Die Gesellschaft der Stadt bestand nun aus den beiden großen arabischen Sippen Aws und Khazraj, von denen die meisten längst Muslime waren, und den Mekkanern. Die Aws und Khazraj waren die Ansar, zu Deutsch Helfer, die Mekkaner erhielten den Namen Muhajirun, Emigranten. Die neue Glaubensgemeinschaft wuchs schnell zusammen. Der Prophet unterstützte dies, indem er zwischen Einzelnen Männern und Familien, oft Ansar und Muhajirun, verbrüderte. Die Aktion war nicht der Form halber oder für oder für die fromme Unterhaltung im Augenblick gedacht. Familienbande bedeuteten damals bei den Arabern vor allem Verantwortung und soziales Einstehen. In diesem Sinne nahmen die Verbrüderten dieses neue Band ernst. Ein Mann der Ansar, der einen Bruder von den Muhajirun bekommen hatte, nahm diesen nicht nur bei sich als Gast auf, sondern bot ihm an, sein Haus mit ihm zu teilen. Er wollte sich auch von seiner Frau scheiden, damit er sie heiraten konnte. Der Muhajir war aber ein Kaufmann und wollte auf dem Markt sein Glück versuchen. Noch Jahre später würden die Verbrüderten es als selbstverständlich erachten, dem vom Propheten zugewiesenen Bruder einen höheren Erbanspruch zuzugestehen als dem leiblichen, bis im Koran hierzu eine klärende Aussage offenbart wurde. Die Verbrüderung diente nicht nur dem sozialen Ausgleich und der Linderung der Not der besitzlosen Muhajirun.

Sie sollte auch helfen, die festen Sippenblöcke aufzulockern. Dies war wichtig, denn die Gräben vor allem zwischen den Aws und den Khazraj waren tief und längst nicht überwunden. Auch nach der Ankunft des Propheten und ihrem gemeinsamen Eintritt in den Islam, mit dem sie zu Geschwistern im Glauben geworden waren, war die Gefahr des Ausbruchs von Feindseligkeiten noch nicht gebannt. Feinde konnten durch die Erinnerung an die unseligen Zeiten immer wieder Wunden aufreisen und Hass schüren. Mit der Zeit wurde die Einheit der muslimischen Gemeinschaft immer stärker und tiefe Gläubigkeit, Brüderlichkeit und die Liebe zu Gott und Seinem Gesandten ersetzten unwiederbringlich den Geist der alten Zeit der Unwissenheit, der Jahiliyya.

Heimat und Fremde

Yathrib war bekannt für bekannt für ein schlimmes Fieber, das Fremde oft befiel. Als Oasenstadt bekam ihre Luft wahrscheinlich nicht gleich den anderen Arabern, die in trockenen Wüstengegenden wohnten. Auch viele der Muhajirun wurden von dieser Krankheit befallen. Sie waren ohnehin durch die seelische Umstellung, die lange Reise geschwächt und mussten sich noch daran gewöhnen, dass sie vertrieben worden waren und ihre Heimat wahrscheinliche nie wieder zurück bekommen würden. Von eineigen sind Gedichte überliefert, in denen sie von der Heimat und der Krankheit sprachen. Sogar Bilal, der als Sklave in Mekka wegen seines Glaubens gefoltert worden war, verlieh seiner Sehnsucht in einem schönen Gedicht Ausdruck. Aber auch die Muhajirun lebten sich in ihre neue Gemeinschaft ein und fanden hier wie der Prophet für immer ihre neue Heimat.

Die Herzlichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie die Ansar zur Teilhabe an ihrer gemeinsamen neuen Stadt einluden, erleichterte es ihnen. Aber auch das gemeinsame Bauprojekt und die daraus entstandene Moschee trugen zur Entstehung der Gemeinschaft bei. An den Bauarbeiten beteiligten sich alle, auch der Prophet selbst und sangen dabei heitere Lieder.
Es war die Geburtsstunde der Gemeinschaft, der Umma der Muslime. Was sie einte war der Glaube an den Einen Gott, dessen Botschaft ihnen von Muhammad, Seinem letzten Gesandten, überbracht wurde. Fünfmal am Tag erklang der Ruf des Muezzin, dem sie in die Moschee zum gemeinsamen Gebet folgten. Dort beteten sie alle zusammen in geraden Reihen hinter dem Propheten, dort hörten sie seine Predigten und saßen sie zusammen mit ihm in Sitzungen, in denen er ihnen die Lehren des Himmels mitteilte.