Sira Teil 15: Die Gesellschaft von Medina

 

Die Götzendiener von Medina

Die Gesellschaft von Medina bestand nicht nur aus den Muslimen. Obwohl der Islam in jedes Haus gedrungen war, befanden sich unter den Arabern noch Leute, die bei der Götzenverehrung ihrer Väter geblieben waren. Der Prophet lud sie weiter zum Islam ein und ließ sie den Koran vernehmen. Anders als die Mekkaner waren sie der neuen Religion gegenüber nicht feindlich gesinnt. Ein Grund dafür war sicherlich auch die Offenherzigkeit und Milde, die die Medinenser insgesamt auszeichnete. Aber auch die politische Lage spielte hierbei eine große Rolle: der Prophet war längst der erste Mann der Stadt war und die Muslime, die große Mehrheit, liebten ihn über alles liebten und folgten ihm entschlossen.

Jetzt auch weltliche Gründe für die Annahme des Islam

Während in Mekka irdischer Gewinn durch die Annahme des Islam nicht zu erwarten war, sondern nur Verfolgung und Verluste, war es Medina nun umgekehrt. Nicht mehr nur der Glaube selbst konnte der Beweggrund für die Konversion zum Islam, sondern auch weltliche Absichten. Im schlimmsten Fall konnten sie sogar dem Islam gegenüber feindlich gesinnt sein und den Glauben an den Propheten vortäuschen.

Ein solcher Fall war Abdulla bin Ubayy. Er gehörte dem Stamm der Khazraj an und sollte vor der Ankunft des Islam in der Stadt zu ihrem Führer ernannt werden. Nach dem letzten blutigen Kampf der beiden Stämme war beschlossen worden, den wackeligen Frieden durch die Ernennung eines gemeinsamen Führers abzusichern. Die Rede war sogar von einem König gewesen und man hatte schon begonnen, Thron und Diadem anzufertigen. Der Prophet hatte ihn um diese Position gebracht, was er ihm übel nahm. Nach anfänglichem Zögern nahm er den Islam vordergründig an und betete mit den Muslimen in der Moschee. In Wirklichkeit wartete er auf eine passende Gelegenheit, um den Propheten doch noch loszuwerden oder den Muslimen in den Rücken zu fallen. Aber der Prophet behandelte ihn und die anderen Heuchler, wie sie genannt wurden, wie ehrliche Muslime und wies auch die Gläubigen an, die Menschen nach dem zu beurteilen, was sie äußern und nach Unterstellungen.

Die Juden in Medina

Neben den Arabern lebten in Medina auch jüdische Stämme. Die meisten von ihnen waren kleinere Clans, die innerhalb der Stadt lebten. Neben ihnen gab es dort drei große Stämme. Die Banu Qainuqa’ lebten in einem befestigten Viertel am südlichen Rand der Stadt, während sich die Siedlungen der Banu Nadhir und Banu Quraida in befestigten Vororten befanden.

Der Prophet schloss mit ihnen Verträge, in denen die Vorherrschaft der Muslime mit dem Propheten als Oberhaupt anerkannt wurde. Die anderen Religionsgemeinschaften sollten unverändert vollständige Autonomie in ihren Angelegenheiten behalten, während die gemeinsame Stadt gemeinsam zu verteidigen war. Der letzte Punkt betraf nach dem weiteren Fortgang der Ereignisse zu urteilen jedoch nur den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass von einem Angriff alle Bewohner der Stadt und ihrer Vororte betroffen sein sollten. Jedenfalls erwarteten die Muslime von den Juden die Unterstützung bei der Selbstverteidigung in keiner der kommenden Kriegsbegegnungen.

Die kleineren jüdischen Stämme im Inneren der Stadt traten dem Vertrag von Anfang an bei. Mit ihnen sollten die Muslime auch in den kommenden Jahren friedlich zusammenleben. Die drei großen Stämme schlossen kurz später separate Verträge mit dem Propheten, die vielleicht auch von dem ersten Vertrag abwichen.

Die drei großen Stämme waren zuvor Bündnispartner der Aws oder Khazraj gewesen. Sie unterstützten sie in ihren Kämpfen mit dem jeweils anderen Stamm als Waffenlieferanten und Kreditgeber. Sie genossen aber auch ein hohes Ansehen als Schriftvolk, das über Wissen verfügte, das den Arabern mangels Propheten nicht zugänglich war. Deshalb waren sie gerne konsultierte Berater. Die Ankunft des Propheten war auch für sie ein Macht- und Bedeutungsverlust. Die sichere Einigung der beiden Kriegsparteien unter der Führung des Propheten, Gottes Segen und Frieden über ihn, machte sie als Bündnispartner überflüssig, und durch die neue Offenbarung verlor auch ihr Wissen auf einmal seine Bedeutung für die Medinenser.

Erste Expeditionen gegen die Mekkaner

Die wichtigste Aufgabe des Propheten war nach wie vor die Überbringung der göttlichen Botschaft und die Festigung des Glaubens an den Einen Gott. Doch waren die Umstände andere als zur Zeit von Mekka. Aus der Schar der Gläubigen war nun eine große Gemeinschaft mit eigenem politischem Territorium geworden. Und die Feindschaft der Koraisch bestand immer noch. In Mekka wurden alle, die in den Islam eintraten, weiterhin verfolgt. Und sie hatten die Muhajirun nicht nur ihrer Heimat beraubt und sie zur Auswanderung genötigt, sondern praktisch auch enteignet.

Der lange Schatten der Koraisch

Nach Ankunft der Muhajirun warfen die Koraisch den Ansar vor, dass sie ihnen Asyl gewährt hatten. Die Mekkaner wollten sich nicht mit dem Entkommen Muhammads und dem Scheitern ihres Mordplans abfinden. Was sie in Mekka nicht gegen einzelne Muslime innenpolitisch geschafft hatten, mussten sie nun zu Ende bringen. Sie waren in ihrer politischen und religiösen Vormachtstellung in Arabien und damit auch in ihren wirtschaftlichen Interessen bedroht. Also mussten sie handeln.

In einem Schreiben an das Oberhaupt der verbliebenen Götzendiener, Abdullah bin Ubayy, der damals die Annahme des Islam noch nicht vorgab, drohten sie: „Ihr habt unseren Gefährten aufgenommen und wir schwören bei Gott, entweder ihr bekämpft ihn, oder ihr weist ihn aus, oder wir kommen allesamt zu euch und töten eure Krieger und nehmen eure Frauen.“ Sie drohten auch den Muhajirun und selbst der Prophet lebte in Gefahr und ließ sich eine Zeit lang nachts von seinen Gefährten bewachen. Darüber hinaus gelang es ihnen, andere arabische Stämme für eine wirtschaftliche Isolierung von Medina zu gewinnen.

Medina war indessen keine reiche Stadt und hatte darüber hinaus die Ankunft der großen Zahl der Flüchtlinge zu bewältigen, die auch noch von zu Tag anwuchs. Es wird überliefert, dass auch die anderen arabischen Stämme ihre Feinseligkeit zum Ausdruck brachten und es nicht nur bei dem Boykott beließen. Die Muslime in Medina jedenfalls schliefen mit ihren Waffen und waren in ständiger Alarmbereitschaft.

Die Erlaubnis zu kämpfen

In Mekka war dem Propheten auferlegt worden, nicht zu den Waffen zu greifen und er hatte seine Gefährten von bewaffneten Auseinandersetzungen abgehalten. Vor dem Hintergrund der neunen Situation wurde dieses Verbot nun aufgehoben und den Muslimen der Kampf zur Selbstverteidigung mit der Offenbarung des folgenden Koranverses ausdrücklich erlaubt:

Die Erlaubnis [zum Krieg] wurde denen gegeben, die kämpfen, weil ihnen Unrecht geschah. Und Gott hat die Macht, sie zum Sieg zu führen; jene, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sprachen: Unser Herr ist Gott.

Der Prophet wollte nicht warten, bis die Koraisch nach Medina marschieren würden und ihnen bis dahin noch Gelegenheit geben, die anderen arabischen Stämme mit sich zu vereinen. Er ergriff die Initiative und entsandte regelmäßig Expeditionen, die die Karawanen der Koraisch auf ihren Handelsreisen auflauern sollten. Er stellte die Expeditionen stets aus Muhajirun zusammen, denn sie waren es, die enteignet und vertrieben worden waren. Die erste Expedition entsandte er bereits etwa sechs Monate nach seiner Ankunft in Medina. Aber alle Expeditionen blieben ohne bewaffnete Auseinandersetzungen und ohne Beschlagnahme von Waren. Sie dienten vielmehr der Demonstration von Stärke und Kampfbereitschaft. Als konkrete Ergebnisse brachten sie Friedensabkommen mit Stämmen in den Einsatzgebieten.
Erst nachdem eine mekkanische Expedition gegen die Muslime Nutztiere raubte, schickte der Prophet eine Expedition weit in den Süden, um zwischen Mekka und Taif den Koraisch auf ihrer Handelsroute nach Süden aufzulauern. Bei diesem Einsatz töteten die Muslime einen Koraischiten und nahmen zwei in Gefangenschaft.