Sira Teil 12: Die Leute aus Yathrib
Yathrib, das spätere Medina, lag etwa vierhundert Kilometer nördlich von Mekka. Dort lebten neben
den beiden arabischen Stämmen Aws und Khazraj auch einige jüdische Stämme mit gelehrten Rabbinern. Sie standen mit den Arabern in engen Beziehungen und hatten ihnen oft von einem Propheten
gesprochen, der bald kommen würde und mit dem sie zusammen die arabischen Heiden bekämpfen würden. Anders als die umliegenden arabischen Beduinenstämme waren die Leute aus Yathrib Palmenbauern. Die
Aws und die Khazraj lebten innerhalb der Stadt, mit ihnen eine Reihe kleinerer jüdischer Sippen. Von den drei größeren jüdischen Stämme lebten zwei in befestigten Vororten, der dritte in einem
äußeren Viertel der Stadt.
Eine Begegnung wie keine zuvor
Im Jahr 11 nach der Berufung (3 v.H.; 620 n.Chr.) kamen sechs Männer aus Yathrib zur Wallfahrt nach Mekka. Als der Prophet sie mit der Botschaft des Islam ansprach, wurden sie hellhörig und
vermuteten in ihm jenen erwarteten Propheten. Ihre Offenheit und Zugeneigtheit war überraschend und sie unterschieden sich hierin völlig von den anderen Stämmen, denen er bislang begegnet war. Es
spielte hierfür auch eine Rolle, dass sie aus einer zerrissenen Stadt kamen, in der die zwei arabischen Stämme in erbitterter Feindschaft miteinander lebten.
Ein langer Fehdenkrieg lag erst kurze Zeit zurück und seine Wunden waren in den Herzen der Menschen auf beiden Seiten noch so präsent, dass eine völlig unwesentliche Kleinigkeit jederzeit zum
nächsten Blutvergießen führen konnte. Sie sahen in dem Propheten daher auch eine Hoffnung für ihre Stadt und ihre beiden Stämme. Er könnte sie einen und sie das Kriegsbeil ein für allemal begraben
lassen. Es war jedoch nicht Kalkül, das sie dem Propheten zuhören ließ, sondern Hoffnung. Vielleicht hatte sie die Erfahrung nachdenklicher gemacht und die Not einsichtiger und empfänglicher für eine
Botschaft, die die Herzen und den Geist anspricht. Vielleicht hatte der zermürbende Krieg, in dem es weder Sieger noch Verlierer gab, keinen Platz mehr gelassen für Ahnenstolz und Überheblichkeit.
Und vielleicht war auch der Glaube an ihre Götter durch das langjährige Leiden erschüttert, so dass sie eher bereit waren sie in Frage zu stellen.
Sie waren zu sechst und alle aus dem Stamm der Khazraj. Sie sprachen noch vor Ort das Glaubensbekenntnis und nahmen sich vor, die Botschaft des Propheten nach Medina zu ihren Leuten zu bringen.
In Yathrib breitet sich der Glaube schnell
aus
In Yathrib drang die Botschaft vom Propheten, Allahs Segen und Frieden über ihn, schnell in jedes Haus. Es erwies sich sehr bald, dass nicht nur die sechs Männer, sondern die gesamte Stadt dem Islam
mit großer Offenherzigkeit begegnete. Ohne Muhammad noch gesehen zu haben nahmen viele Menschen seine Botschaft an. Die Atmosphäre sollte hier von Anfang an eine ganz andere sein als in Mekka. Schon
im nächsten Jahr (12 nach der Berufung; 2 v.H.; 621 n.Chr.) kam eine Delegation von vier Männern aus den Khazraj und zwei der Aws zur Wallfahrt. Sie schlossen mit dem Propheten einen Pakt, wonach sie
versprachen, Gott allein zu dienen, nicht zu stehlen, nicht fremdzugehen, ihre Kinder nicht zu töten, niemanden zu verleumden und schließlich ihm den Gehorsam im Guten nicht zu verweigern.
Im darauf folgenden Jahr bestand die Delegation aus mehr als siebzig Muslimen, unter ihnen auch zwei Frauen. Sie trafen sich nach Mitternacht an einem versteckten Ort, den sie mit dem Propheten in
geheimer Diplomatie vereinbart hatten. Weder die Koraisch, noch die mitgereisten Götzendiener aus Yathrib sollten von dem Treffen erfahren.
Diesmal hatte der Pakt auch einen klaren politischen Bestandteil. Der Onkel des Propheten Abbas, der noch dem Glauben der Väter angehörte und mitgekommen war, eröffnete das Treffen mit der
nachdrücklichen Forderung, Muhammad vor seinen Feinden zu beschützen. „Wenn ihr seht, dass ihr ihn nach seiner Abreise zu euch freigeben und im Stich lassen würdet, dann lasst ihn gleich hier zurück.
Denn er genießt in seiner Heimat und in seinem Stamm einen starken Schutz.“
Sie wollten aber den Propheten hören: „Wir haben gehört. So sprich du, Gesandter Gottes, und bedinge für dich und deinen Herrn, was dir beliebt.“ Sie waren offenbar in tiefem Glauben an ihn, den
Gesandten Gottes, nach Mekka gekommen, in fester Entschlossenheit, mit ihm diesen unbestimmten Weg zu gehen. Der Prophet bedingte für sich den Gehorsam, finanzielle Opfer, Rechtschaffenheit und
Zivilcourage, für Gott aufzustehen und sich nicht einschüchtern zu lassen, mit ihm zu kämpfen und ihn zu beschützen, so wie sie sich selbst und ihre Frauen und Kinder beschützen würden. Und ihnen
versprach er nicht mehr und nicht weniger als das Paradies.
In einer bewegten Atmosphäre wurde allen Anwesenden klar, dass dieses geheime Treffen ebenso historisch wie schicksalhaft war. Die Medinenser würden sich durch Annahme des Islam und die Unterstützung
des Propheten alle anderen Araber zu Feinden machen. So wie die Koraisch ihren eigenen Sohn aufgrund seiner Botschaft angefeindet hatten, so würden die arabischen Stämme, Beduinen und Städter, ihre
Stadt anfeinden.
Es waren einige Medinenser selbst, die das Risiko und die Schicksalhaftigkeit der Stunde betonten. „Würdet ihr ihn wieder freigeben, wenn euch euer Vermögen genommen und eure Adligen getötet
werden?“, vergewisserte sie einer aus ihrer Mitte, als sie schon aufstanden, um den Treuebund zu besiegeln. „Wenn es so ist, dann tut es gleich, denn bei Gott, es wäre eure Schande auf Erden und im
Jenseits. Wenn ihr meint, dass ihr zu eurem Versprechen stehen würdet trotz des Verlusts eurer Vermögen und eurer Adligen, dann nehmt ihn. Denn bei Gott, er ist das Beste auf Erden und im Jenseits.“
Ein anderer verwies darauf, dass auch die Bündnisse mit den jüdischen Stämmen Yathribs durch dieses Bündnis hinfällig würden. Ein Dritter fragte den Propheten, ob er sie denn wieder allein lassen
würde, wenn sein Volk ihm folgen würde. Hierauf antwortete der Prophet: „Euer Blut ist mein Blut, und eure Verlust ist mein Verlust. Ich gehöre zu euch und ihr gehört zu mir. Ich kämpfe gegen eure
Feinde und schließe Frieden mit euren Freunden.“
Dann stand einer auf und erklärte endgültig: „Angenommen, wir nehmen ihn zu uns auch auf das Risiko hin, unser Vermögen einzubüßen und unsere besten Männer zu verlieren. Was bekommen wir dann dafür,
Gesandter Gottes, wenn wir dies alles einhalten?“ „Das Paradies.“, antwortete der Prophet kurz. Da sprachen sie: „So reiche uns deine Hand!“ Er hielt ihnen seine Hand hin und sie gaben ihm einer nach
dem anderen ihre Hände und besiegelten den Treuebund.
Die Leute aus Yathrib sollten sich als verlässliche und standhafte Partner erweisen. Ihr Glaube an den Propheten und saßen sehr tief in ihren Herzen. Auch als es brenzlig wurde, als sie mit ihren
vielen verarmten Glaubensgeschwistern aus Mekka teilen mussten, als sie ihre Leute im Kampf verloren: sie sollten zu ihrem Wort stehen. Auch in der Zeit nach dem Tod des Propheten, als es um die
Verteilung von Pfründen und Macht ging, hielten sich die Ansar, Helfer, wie sie genannt wurden, sollten sich die Ansar bescheiden zurückhalten. Der Koran wird zu gegebenem Anlass über sie
sprechen:
Und jene, die vor ihnen in der Wohnstätte und im Glauben zuhause waren. Sie
lieben jene, die bei ihnen Zuflucht suchten, und hegen in sich kein Bedürfnis nach dem, was ihnen gegeben wurde, sondern bevorzugen andere vor sich selbst bevorzugt, auch wenn sie selbst in
Dürftigkeit leben. Und wer vor seiner eigenen Habsucht bewahrt ist - das sind die Erfolgreichen. (al-hasr; 59; 8)